Wir verteilen Führungsarbeit bei der Schweizerischen Bundesbahn – Ein Interview mit dem Innovationscoach des Schweizer Traditionsunternehmens

„Sich an Modellen kollegialer Führung zu orientieren ist gut, die Lösungen aber müssen individuell sein“, sagt Marcel Reinhard. Er begleitet als Innovationscoach die Schweizerische Bundesbahn (SBB) bei der Überführung einzelner Unternehmensbereiche in kollegial geführte Strukturen.

In einem Interview spricht Reinhard, der auch auf der AGILE SALZBURG als Vortragender zu sehen sein wird, wie wichtig individuelle Lösungen, ein gegenseitiges Verständnis und eine klare Vision sind. Ein Bericht eines Praktikers, der Herausforderungen kennengelernt und Lösungswege gefunden hat.





Setting Milestones: Der zentrale Inhalt Ihres Vortrags auf der AGILE SALZBURG wird die Transformation zweier Bereiche der Schweizerischen Bundesbahn von einem traditionell geführten Unternehmen zu einem kollegial geführten Unternehmen sein. Was kann ein Management dazu veranlassen, die eigenen, hart erkämpften Positionen der Macht zu verlassen und sein Unternehmen auf ein kollegial geführtes Unternehmen umzustellen?

Marcel Reinhard: Bei der Schweizerischen Bundesbahn hat das Management entschieden, dort von traditionell auf agile Formen der Zusammenarbeit, zum Beispiel kollegiale Führung, umzustellen, wo es ein spürbares Bedürfnis dafür gibt. Dieses Bedürfnis kommt ganz stark aus dem Umfeld – insbesondere in Form von immer komplexer werdenden Anforderungen an die Serviceleistungen der SBB. Dort hat man gemerkt, dass die klassischen Strukturen diese Bedarfe nicht mehr voll abdecken können: da dauern Entscheide länger, werden Top-down getrieben oder es gibt keine etablierten Prozesse und verfügbaren Lösungen, mit denen man dieser Komplexität begegnen könnte. Im Falle der SBB betrifft das unter anderem ein Kundenkontaktcenter und den Geschäftsbereich für neue Mobilitätsdienstleistungen. Dort sind wir mitten im Prozess, die Bereiche von einer traditionellen auf eine kollegiale Führung umzustellen.



Was heißt „kollegiale Führung“ genau? Müssen wir uns dann alle gernhaben?

Kollegiale Führung wird häufig von vielen Mythen begleitet. Dass wir uns dann alle gernhaben müssen, ist eine davon. Gleichermaßen wie der Irrglaube, dass es sich bei kollegialer Führung um eine Basisdemokratie handle. Beides entspricht nicht der Realität. Auch in kollegialen Strukturen bleibt der Mensch menschlich – es gibt Spannungen, zwischenmenschliche Befindlichkeiten oder Unstimmigkeiten über Entscheidungen. Ich glaube aber fest daran, dass mit dieser neuen Form der Zusammenarbeit der Mensch wieder in den Fokus rückt.

Der wesentliche Unterschied zwischen traditioneller und kollegialer Führung ist wohl jener, dass Führungsarbeit in kollegial geführten Unternehmen verteilt wird – allerdings sehr wohl noch vorhanden ist. Das heißt auch, dass es auch in kollegial geführten Organisationen noch gewisse Hierarchien gibt.



So wie Bernd Oestereich sagt: „Führungsarbeit statt Führungskräfte“? Ist diese Aussage für Sie zutreffend? Wie kann das in der Praxis aussehen?

Damit spricht Oestereich definitiv einen wichtigen Punkt an. Die Verteilung von Führungsarbeit und Wissen auf das Team ist ein wesentlicher Eckpfeiler kollegial geführter Organisationen. Konkret geht es darum, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie anfallen und wo auch das entsprechendes Wissen vorhanden ist. Während Entscheidungen früher über drei Instanzen laufen mussten, um dann von jemandem getroffen zu werden, der wesentlich weniger Know-how zur konkreten Fragestellung hatte, haben heute die Leute vor Ort, jene die direkt am Kunden sind, die Befugnis zu entscheiden. Das macht uns nicht nur schneller, sondern auch kundenzentrierter und innovativer.



Welchen konkreten Vorteil sehen Sie dadurch in Ihrem Team? Ändert es etwas?

Ja, es ändert sehr viel.

In vielen Fällen bringen sich Mitarbeiter mehr ein, sind lösungsorientierter und beginnen Verantwortung zu übernehmen, was sich schlussendlich auch auf die Motivation auswirken wird. Etwas Besseres kann einem Unternehmen nicht passieren.



Frederic Laloux sagte einmal: „Wer hierarchische Strukturen und Systeme abschafft, aber keine neuen schafft, landet geradewegs im Chaos.“ Sie begleiten diesen Wandel bei den Schweizer Bundesbahnen. Wie haben Sie das Chaos vermieden?

Ich glaube Chaos entsteht insbesondere dann, wenn man aus falschem Ehrgeiz versucht, ein gepriesenes Modell oder einen in einem anderen Unternehmen funktionierenden Weg 1:1 in die eigene Organisation zu übertragen.

Modelle zu haben, an denen man sich orientieren kann, ist gut. Die Lösungen müssen aber individuell aussehen.

Bei den SBB transformieren wir gerade zwei Bereiche und sogar innerhalb des gleichen Unternehmens sind unterschiedliche Vorgehensweisen notwendig! Während wir in dem einen Unternehmensbereich auf der grünen Wiese starten konnten und kollegiale Strukturen schon weitgehend einführen konnten, gibt in dem anderen Bereich noch klassische Teamleiter. Alles andere würde diesen Bereich noch überfordern und würde, da gebe ich Laloux recht, geradewegs ins Chaos führen.



Ein derartiger Transformationsprozess bedingt ja nicht nur Veränderungen auf struktureller und organisationaler Ebene, sondern bedeutet vor allem einen wesentlichen Kulturwandel. Wie nehmen Sie dieses Thema in Ihrem Transformationsprozess mit?

Der Kulturwandel ist sicherlich der herausforderndste und gleichzeitig auch erfolgskritischste Part in der gesamten Transformation. Meiner Erfahrung nach ist es entscheidend, ob ein Verständnis für die Bedürfnisse der anderen hergestellt werden kann. Wir von der Innovation müssen die Leute vom Tagesgeschäft und deren Bedürfnisse verstehen. Wir müssen auch anerkennen, dass es das Tagesgeschäft ist, das unser Tun letzten Endes rechtfertigt. Umgekehrt müssen jene, die im Tagesgeschäft arbeiten, dafür sensibilisiert werden, dass Veränderung notwendig ist und wir diese initiieren müssen, um auch in Zukunft noch konkurrenzfähig zu sein. Um dieses gemeinsame Verständnis herzustellen, arbeiten wir mit unserer Vision: Bahn im Griff und Mobilität der Zukunft gestalten. Letzten Endes dienen wir alle dieser Vision – dieses Verständnis muss verinnerlicht werden.



Wie geht es den Schweizer Bundesbahnen mit dem neuen Verständnis der Zusammenarbeit? Wir wissen ja aus Studien, dass ein guter Anteil der Beschäftigten eigentlich ganz zufrieden damit wäre, Anweisungen einfach auszuführen. Konnten Ihre Mitarbeiter Selbstorganisation, Autonomie, Entscheidungsfreiheit bereits für sich entdecken?

Hier ist der Reifegrad ganz unterschiedlich. Während die einen regelrecht aufblühen, innovativ werden und unternehmerisch zu denken beginnen, sind andere überfordert und zeigen Widerstand. Interessant ist hier wieder der Zusammenhang zwischen der Geschichte der Teams und deren Umgang mit der neuen Kultur: Es zeigt sich ganz klar, dass jene Bereiche, in denen in etablierte Strukturen eingegriffen werden musste, wesentlich mehr Widerstand aufkommt als in jenen, in denen neue Strukturen auf der grünen Wiese geschaffen werden konnten. Für mich ist auch das wiederum eine Bestätigung, dass es nie den einen besten Weg gibt, sondern dieser immer kontextabhängig ist.






Gut zu wissen, wenn Sie eine Organisation auf kollegiale Strukturen umstellen.
3 Take-aways von Marcel Reinhard

1 – Geben Sie der Transformation Zeit! Wenn man hier versucht, etwas übers Knie zu brechen, bekommt man die Rechnung dafür später präsentiert.

2 – Gehen Sie schrittweise vor und suchen Sie nach eigenen Lösungen.

3 – Haben Sie den Mut dranzubleiben! Widerstand wird aufkommen und Hürden werden Ihnen begegnen. Ignorieren Sie diese nicht, sondern gehen Sie darauf ein und machen Sie wenn nötig einen Schritt zurück. Danach aber ist es an der Zeit, wieder zwei Schritte nach vorne zu machen!





MARCEL REINHARD
Innovationscoach bei der Schweizerischen Bundesbahn (SBB)

Marcel Reinhard ist davon überzeugt, dass agile Strukturen und Arbeitsweisen, Mitarbeiter zufriedener, die Arbeitswelt einfacher und damit Unternehmen erfolgreicher machen können. Das hat er bereits vielfach erlebt – unter anderem bei der Schweizerischen Bundesbahn, wo er als Innovationscoach tätig ist. Dort begleitet er das Traditionsunternehmen auf dem Weg zur zukunftsfähigen Organisation, die nicht nur dem dynamischen und komplexen Kontext, sondern vor allem den Bedürfnissen der Kunden gerecht werden soll. Ein spannender Weg, der immer wieder Umwege fordert, viele Learnings bereithält, sich allerdings auch immer besser anfühlt, je länger man ihn geht.


Das Interview führte Birgit Schreder-Wallinger